Über das Wasser der riesigen Poolanlage, die das Festgelände umgibt, tanzen Lichtpunkte in allen erdenklichen Farben. Am gepflegten Rasen daneben sind Büsche und Sträucher in kleine runde Formen geschnitten und mit überdimensionalen Schleifen geschmückt. Über der Brücke, die mitten durch die Poolanlage zum Haupteingang führt, schweben Dutzende Led-Ballons, die im Sekundentakt ihre Farbe wechseln: Blau, Silber, Gold, Orange, Rot, Violett. Ich kann mich kaum von dem schillernden Spektakel losreißen.
Einer der beiden groß gewachsenen Securities, die links und rechts neben der Eingangstür stehen, mustert mich neugierig. Zuerst bleiben seine Augen an der schwarzen Spitzenmaske im italienischen Stil hängen, die meine Augenpartie bedeckt. Dann an den langen mokkabraunen Locken. Schließlich wandern sie tiefer und vermessen meinen Körper unter dem zarten, goldenen Abendkleid, das dank des hohen Seitenschlitzes und der unzähligen transparenten Einsätze deutlich mehr zeigt, als es verbirgt.
»Karten gibt’s dort drüben zu kaufen, hundert Mäuse. Oder hast du eine Einladung, Schätzchen?« Als der Türsteher seinen Blick endlich von meinem Dekolleté losreißt, blickt er mir durch die Maske direkt in die Augen.
»Nein. Aber ich bin eine Freundin von Caesar Cornale, dem Sohn des Besitzers.«
»Sohn des Besitzers?« Die beiden Türsteher tauschen Blicke, »Caesar Cornale IST der Besitzer.«
»Und ich bin eine Freundin von ihm.«
»Name?«
»Alicia Summerset.«
Der Anzugträger wendet sich ab und spricht in sein Headset, leider kann ich bis auf meinen Namen kaum was verstehen. Den wiederholt er dafür gleich mehrmals.
»Caesar Cornale ist nicht hier«, sagt er eine Spur zu laut für meinen Geschmack. »Du musst ein Ticket kaufen … oder ein anderes Mal wieder kommen.«
»Das kann nicht sein, ich weiß doch …«
»Ticket kaufen.« Der Türsteher klingt jetzt, als würde er zu einem begriffsstutzigen Kleinkind sprechen.
Ich atme tief durch. Mein Geld hat gerade einmal für die Fahrt hierher ausgereicht, der Eintritt ist nicht mehr drinnen.
»So ein atemberaubendes Geschöpf kann man doch nicht fortschicken«, höre ich eine entrüstete Stimme hinter dem Türsteher und reiße überrascht die Augen auf, als ich Giacomo Casanova erblicke, der gerade den Festsaal verlässt. Oder besser gesagt seinen kostümierten Zwilling aus dem 21. Jahrhundert. »Die Dame gehört zu mir.« Im Vorbeigehen küsst er galant meine Hand und überreicht mir ein Ticket. »Wir sehen uns, Schönheit.« Dann ist er auch schon zwischen den kunstvoll geschnittenen Sträuchern verschwunden. Der Türsteher starrt ihm einen Moment lang hinterher, zuckt die Schultern und tritt zur Seite, um die Tür für mich freizugeben.
Laute Partymusik schlägt mir entgegen, als ich durch den Eingang trete, dazu ein helles Lichterspektakel, das von Scheinwerfern, Discokugeln und Led-Girlanden gespeist wird. Im Gegensatz zum Außenareal ist hier drinnen alles in Gold und Silber gehalten. Bunte Farben sind kaum zu finden, außer in dem einen oder anderen etwas zu auffälligen Party-Make-up.
An der hohen Decke schweben unzählige Luftballons in denselben Tönen. Das Geländer des Treppenaufgangs und der Balkonbereich sind mit glitzernden Pompons und Wimpeln geschmückt. Überall stehen elegant gekleidete Menschen in Anzügen und Abendkleidern herum. So gut wie jeder trägt eine Maske, überwiegend im venezianischen Stil. Vereinzelt sind auch weiß gepuderte Locken-Perücken, Hüte und Federschmuck zu sehen.
Die Musik, die aus den Lautsprechern knallt, ist eigentlich eine Spur zu modern für das Ambiente, aber der Stimmung scheint es keinen Abbruch zu tun. Obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr abends ist, bewegt sich die Menge ausgelassen über die Tanzfläche. Und selbst oben in den Logen drängen sich die Körper bereits dicht aneinander. Vielleicht hatten sie recht, wenn sie in den sozialen Medien von der Party des Jahres sprachen. Für mich ist es sogar die Party des Jahrzehnts. Nur den Gastgeber scheint das kalt zu lassen. Caesar ist nicht da. Wie lange werde ich wohl warten müssen?
Ein paar Minuten stehe ich einfach nur neben dem Eingang und beobachte mit großen Augen das wilde Treiben. Die Musik, die tanzenden Menschen. Ihr Lachen, Plaudern und Singen. Ich sauge die Partyluft tief in meine Lunge, koste das Aroma voll von Alkohol, Zuckergebäck, Glückshormonen und Adrenalin. Wie lange ist es her, dass ich so etwas erlebt habe?
Fünf Jahre, schießt es mir sofort durch den Kopf. Ich war fast noch ein Kind, als ich zum letzten Mal so richtig gefeiert habe. Ohne Rücksicht auf Verluste, so als gäbe es kein Morgen. Als ob ich schon geahnt hätte, was danach kommen sollte.
Ein kühler Schauer läuft mir über den Rücken und meine Beine werden merkwürdig weich. Vielleicht war es doch eine schlechte Idee, her zu kommen. Wahrscheinlich sollte ich sofort umdrehen und wieder nach Hause gehen. Zurück zu dem kleinen, billigen Häuschen an den Sümpfen.
Aber andererseits … wenn ich jetzt aufgebe, werde ich nie eine Antwort bekommen.
Ich atme tief durch, streiche mir eine Locke aus dem Gesicht und nehme ein Glas Sekt von einem der Tabletts, die Kellnerinnen im Engelskostüm quer durch den Saal tragen. Wenn schon, denn schon. Ich kippe den prickelnden Inhalt in einem einzigen Zug runter. Das tut gut und beruhigt mich, schafft es sogar, den eisigen Schauer zu vertreiben. Nur leider ist der Effekt nicht von Dauer.
»Noch Sekt, Miss?« Diesmal ist es ein männlicher Kellner, der mir sein volles Tablett unter die Nase hält. Er trägt große, weiße Flügel am Rücken, genau wie seine weiblichen Kolleginnen. Seine muskulöse Brust ist von nichts weiter als ein paar Hosenträgern, bedeckt. Die Maske ähnelt denen der Gäste.
Ich nicke dankbar und er lächelt mir zu, als er mein leeres Glas gegen ein volles tauscht. »Keine Sorge«, sagt er, »Der hier haut einen nicht um, der bringt nur Glücksgefühle.«
Der Engel hat recht, nach dem zweiten Glas geht es mir auf jeden Fall besser. Ich kann spüren, wie sich wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitet. Wohlige Wärme und ein Gefühl der Freiheit. Des Abenteuers. Der Gefahr. Das Gefühl, das ich in den letzten fünf Jahren so schmerzlich vermisst habe.
Wie von einer magischen Kraft angezogen, führen mich meine Schritte quer durch den Saal und weiter bis zur Mitte der Tanzfläche. Die Melodie schlängelt sich durch meine Glieder, packt mich und reißt mich mit. Ich wiege die Hüften im Takt eines Songs, den ich nicht einmal kenne. Ich schließe die Augen, drehe mich um meine eigene Achse und gebe mich einer Vielzahl von Emotionen hin, die sich solange vor mir versteckt haben. Freiheit. Abenteuer … Liebe. Glück.
Als ich große, starke Hände an meinen Hüften spüre, fühlt es sich einfach nur gut an. Richtig. Die Hände gehören zu einem dünnen, aber großen Kerl mit einer weißen Schnabelmaske, die an einen italienischen Gondoliere erinnert. Dazu trägt er stilecht einen dreizackigen Hut auf dem Kopf.
Von der anderen Seite nähert sich ein zweiter Kerl, der dieselbe Maskerade gewählt hat. Ich spüre ein süßes Kribbeln in meiner Mitte. So viel Aufmerksamkeit bin ich gar nicht gewöhnt. Gemeinsam mit mir bewegen sich die beiden Männer im Rhythmus. Wirbeln mich um meine eigene Achse, schubsen mich fort, nur um mich im nächsten Augenblick wieder eng an sich zu ziehen. Wahnsinn. Wie lange habe ich nicht mehr so getanzt? Die Hände eines Gondolieres streichen über meine Taille, die des zweiten über Rücken und Po.
»Wo hast du dich mein ganzes Leben versteckt, Schönheit?«, raunt mir eine heiße Stimme ans Ohr.
»Im Gefängnis«, antworte ich und das bringt die beiden zum Schmunzeln.
»Gut. Dann bist du das hier doch sicher gewöhnt!«
Ich zucke zusammen, als eine Hand durch den seitlichen Schlitz meines Kleides meine nackten Schenkel berührt. »Nicht«, raune ich, doch das sehen die beiden als Herausforderung an. »Leibesvisitation«, kündigen sie an und der Erste schiebt, ohne lange zu fackeln, seine Hand zwischen meine Beine.
Ich drücke ihn weg, doch der Mann mit der Schnabelmaske ist stark. Mit einer schwungvollen Bewegung wirbelt er mich herum, nur um sich im nächsten Moment von hinten an meinen Rücken zu pressen. Der andere kommt von vorne dazu.
»Hört auf!«, fauche ich. Falls ihre Unverfrorenheit anfangs noch etwas Erfrischendes hatte, geht mir das jetzt eindeutig zu weit. »Lasst mich los!«
»Aber nicht doch, Süße.«
Zwei Hände haben inzwischen meine Brüste gefunden, betatschen ganz ungeniert, was das Kleid so notdürftig versteckt. Die anderen Hände kneifen mir frech in den Po.
Verdammte Mistkerle! Ohne zu zögern, hole ich aus und gebe dem Typen gegenüber von mir eine schallende Ohrfeige. Dabei passt ein Streit hier drinnen überhaupt nicht zu meinem Plan. Der Knall ist laut, aber in der Party-Musik geht er unter. Abgesehen davon, sind gerade alle Augen nach oben gerichtet, zu dem großen, goldenen Deckenballon, aus dem sich ein ebenso goldener Konfetti-Regen auf die Menge ergießt. Vielleicht mit ein Grund, dass sich die beiden Kerle so viel herausnehmen.
»Dreckstück!«, schimpft der Typ vor mit und greift sich an die getroffene Stelle am Ohr. Fast in derselben Bewegung holt er aus und gibt mir den Schlag zurück. Mein Kopf fliegt zur Seite, ich stolpere und falle nach hinten. Der zweite Mann ist sofort zur Stelle, fängt mich auf und dreht mir grob den Arm auf den Rücken. »Jetzt bist du fällig«, raunt er mir von hinten ins Ohr, während sich sein Schnabelmasken-Kollege erneut vor mir aufbaut. Noch bedrohlicher als vorher.
Meine Augen springen hin und her, wie im Zeitraffer gehe ich alle Optionen durch. Dem Kerl hinter mir auf den Fuß treten? Ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen des zweiten Arms verpassen? Nein, zuerst muss ich mich auf die Schläger-Schnabelmaske mir gegenüber konzentrieren.
Ich komme nicht mehr dazu, irgendetwas zu tun, weil der Typ im selben Augenblick schmerzerfüllt aufstöhnt und vor mir in die Knie geht. Hinter ihm tritt ein dunkler Schatten hervor. Ein dritter Kerl, gleich groß wie die beiden, aber um einiges kräftiger gebaut. Über dem Maßanzug trägt er einen schwarzen Umhang, sein Gesicht wird nicht von einer klassischen Ball-Maske, sondern von einer im Stil ›Phantom-der-Oper‹ bedeckt.
Als sich der Schnabelmasken-Mann wieder aufrichten will, drückt ihn das Phantom mit einer einzigen Bewegung zurück auf den Boden. »Lass sie in Ruhe«, verlangt seine tiefe, fast schon unheimliche Stimme.
Der Kerl hinter mir denkt allerdings überhaupt nicht daran, seinen Griff zu lockern. Ich sehe, wie Phantom den Kopf neigt. Ihm eine Sekunde Bedenkzeit einräumt. Und als die verstreicht, ohne dass die Schnabelmaske reagiert, schlägt er zu. Seine Faust fliegt an meiner Schläfe vorbei. Trifft mit voller Wucht das Schnabelmasken-Gesicht. Ein Knall ist zu hören, das Geräusch splitternder Keramik. Sofort ist die Hand an meinem Arm verschwunden.
»Au, du verdammtes Arschloch, ich bring dich um!«, schreit der Typ, aber er bewegt sich nicht von der Stelle. Mit einer Hand hält er die zerbrochene Maske vor seinem Gesicht, mit der anderen kramt er in seiner Tasche. Schließlich zieht er ein Taschentuch raus, mit dem er das Blut abtupft, das unter der Maske hervor tropft. »Security! Wo sind die verfluchten Securities?«
»Los komm!«
Das Phantom hat meine Hand genommen und zieht mich über die Tanzfläche und dann noch weiter bis zum Rande des Saals. Unter dem Treppenaufgang, der zu den Balkon-Logen führt, bleibt er stehen, schiebt meine Maske zur Seite und mustert mein Gesicht. Dabei treffen sich unsere Augen. Seine sind strahlend blau wie das Meer und eine Sekunde lang habe ich das Gefühl, darin zu versinken.
»Bist du okay? Haben dich die Typen verletzt?«
Ich schüttle den Kopf.
»Gut. Soll ich trotzdem zurückgehen und sie für dich umbringen?«
Ich schüttle wieder den Kopf und muss gleichzeitig lachen. Das Phantom ist charmant. Sogar ziemlich lustig. Seine Anwesenheit hat etwas Beruhigendes, Angenehmes. Der Typ strahlt Geborgenheit aus. Dabei bin ich eigentlich nicht die Sorte Mädchen, die beschützt werden muss – dachte ich zumindest.